Johannes Kohlschütter

Kalibrierungsfragen

„Der ärmste Hund im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant“: Ich neige nicht dazu, Leute zu verpetzen. Auch hoffe ich, nicht allzu oberlehrerhaft rüberzukommen. Auch nicht in Corona-Zeiten. Würde in meiner Gegenwart jemand andere ermahnen, sich an die üblichen Regeln zu halten – wahrscheinlich würde ich peinlich berührt wegschauen, so berechtigt ich die Ermahnung an sich finde. Dachte ich zumindest.

Zweimal habe ich in den vergangenen Monaten aber doch was gesagt. Gar nicht primär, weil da jeweils jemand im Zug keine Maske trug, sondern weil die beiden Herren auf eine (im Rahmen des Möglichen höfliche) Zurechtweisung durch den Schaffner oder durch andere Mitreisende derart heftig oder selbstgefällig reagierten, dass es sogar mir zuviel wurde.

Ich bin ja leider sehr dünnhäutig, und so habe ich nach beiden Vorfällen etwas aufgewühlt auf meinem Platz gesessen und mich gefragt, ob ich gerade aufrechten kritischen Geistern Unrecht getan hätte. Die Wirksamkeit, Angemessenheit und Notwendigkeit jeder Maßnahme zum Infektionsschutz kann man ja gern hinterfragen. Ich halte es allerdings für unangemessen, das auf dem Rücken anderer Fahrgäste und insbesondere des Zugpersonals zu tun. Zumindest im zweiten Fall stellte sich heraus, dass der rebellierende Mitreisende auf einer über das Private hinausgehenden Mission war – als Redner auf Veranstaltungen gegen Corona-Schutzmaßnahmen. Also immerhin hatte ich da keinen ganz Wehrlosen getroffen.

Neben aller nüchternen und vielleicht teilweise auch berechtigten Kritik an der Coronapolitik der Regierung ist in der öffentlichen Diskussion – um mal eine schöne Formulierung von Friedrich Merz zu verwenden – in diesen Monaten auch viel Bösartigkeit unterwegs. Ich will gar nicht meine Meinung über Leute ausbreiten, die bewusst wirkungslose Masken anbieten und propagieren oder die sich selbst und anderen unbegründet Befreiungsatteste ausstellen. Nur soviel: Wer einen vorformulierten Katalog rechthaberischer Fragen und Musterstrafanzeigen zum Runterladen gegen Lehrer oder Erzieher für Eltern bereitstellt, die „auf Konfrontationskurs mit der Schule gehen“ wollen, dem nehme ich nicht den Anspruch ab, eine „friedliche Bewegung“ zu sein.

Brecht-Zitat auf Mülleimer
Auf oder besser in den Mülleimer mit dem Protest? Darum geht es in diesem Artikel nicht. Auf jeden Fall aber: Nix gegen das Brecht-Zitat an sich!

Nun ist ja zu hoffen, dass die Pandemie sich in absehbarer Zeit überwinden lässt. Dazu braucht es den Gemeinsinn und die Mitwirkung aller Bürger ebenso wie Schutzmaßnahmen und Impfstoffe. Und schließlich die Bereitschaft, trotz aller Entrüstung über die jeweils anders denkenden Kollegen, Freunde, Familienmitglieder etc. wieder aufeinander zuzugehen.

Ich maße mir keineswegs an, einen immer zuverlässigen moralischen Kompass zu haben (diesen Zeitgeistbegriff will ich doch auch mal unterbringen). Deshalb will ich zumindest versuchen, diesen Kompass einigermaßen zu kalibrieren: So gab es meines Erachtens durchaus schon Missstände, bei denen Widerstand gegen die Anweisungen des ÖPNV-Personals ausdrücklich geboten war.

Eines kann man vielleicht aber doch von den Querdenkern lernen: Dreistigkeit. Als über eine von ihnen angeblich geplante besonders niederträchtige Aktion an Schulen berichtet wurde, rechtfertigten sie sich mit dem Hinweis, dass der Aufruf dazu nicht für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen sei. Es habe sich nur um einen Test [ihrer] Kommunikationsstrukturen gehandelt. Wenn ich mal in Schwierigkeiten bin, versuche ich, ob ich damit auch durchkomme.


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